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Gaza und Israel

Manuskript von Bischof Heinrich Bedford-Strohm

24. Sept. 2025

Mitgefühl oder Empörung?
Israel/Palästina als Herausforderung an die Kirche in Deutschland

1. Einleitung

 

Die Situation in Israel und Palästina beschäftigt viele von uns gegenwärtig jeden Tag. Es ist eine dramatische Situation. Noch immer werden israelische Geiseln in den Tunneln von Gaza unter fürchterlichen Bedingungen gefangen gehalten. Noch immer bombardiert die israelische Armee erbarmungslos das, was von Gaza noch übrig geblieben ist. Noch immer blockiert sie ausreichenden Zugang für humanitäre Versorgung. Und gleichzeitig gehen Hunderttausende in Israel auf die Straße und fordern ein Ende des Krieges und die Rettung der Geiseln.

Sie haben mich in dieser Situation eingeladen, um Hintergründe und Kontexte für eine Entscheidung des Weltkirchenrates zu reflektieren, die hier in Deutschland starke Gefühle hervorgerufen hat. Sie schwanken zwischen Empörung, Enttäuschung, Zustimmung, Nachdenklichkeit und vielleicht auch nur Traurigkeit. Vieles davon kann ich nachvollziehen. Umso mehr hoffe ich, dass es uns gelingt, durch die unmittelbaren Gefühle hindurch zu einer Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Weltkirchenrates zu Israel und Palästina bei seiner Zentralausschusssitzung in Johannesburg im Juni dieses Jahres zu gelangen, die vor allem von zweierlei geprägt ist: von Sachlichkeit und von Empathie – und zwar gegenüber beiden Seiten.

 

Der Beschluss hat zum Teil starken Reaktionen hervorvorgerufen. Kritische Reaktionen, die bis zum Antisemitismus-Vorwurf reichen, die die ÖRK-Zentrale in Genf aus Deutschland erreicht haben, kommen zu 95% aus Deutschland. Angesichts unserer besonderen geschichtlichen Verantwortung gegenüber dem Judentum und damit auch gegenüber dem Staat Israel, in dem die von Deutschland verfolgten Juden und die Überlebenden des Holocaust Zuflucht gefunden haben, ist das auch nicht überraschend.

 

Gegenüber dem Horror, dem die Menschen gegenwärtig in Gaza ausgesetzt sind, erscheint die Debatte um Begriffe wie Apartheid oder Genozid indessen als „doch eine ziemlich akademische Diskussion“. So hat es der Hannoveraner Rabbiner Gabor Lengyel in diesen Tagen im Blick auf den Genozid-Vorwurf zum Ausdruck gebracht. Welche Begriffe auch immer wir gebrauchen, die täglichen Berichte über weitere Tote, durch Hunger oder durch anhaltende Bombardements durch die israelische Armee ebenso wie die Grausamkeit, der die noch immer von der Hamas festgehaltenen Geiseln ausgesetzt sind, sind kaum noch auszuhalten.

Gerade in Deutschland können wir uns aus diesem Geschehen nicht heraushalten. Deswegen ist es gut, dass wir uns heute anhand des Beschlusses von Johannesburg damit auseinandersetzen.

 

Bevor ich den Beschluss erläutere, müssen wir auf die Vorgeschichte schauen.

Im Weltkirchenrat – das zunächst zur Information - sind 356 Kirchen aus 120 Ländern mit 600 Millionen Mitgliedern zusammengeschlossen. Die Kontexte, aus denen die Delegierten des Zentralausschusses kommen, sind extrem unterschiedlich – oft auch geprägt von starken Unterdrückungserfahrungen. Bei der Vollversammlung des Weltkirchenrats in Karlsruhe 2022 hatte es eine heftige Diskussion um den Apartheidbegriff gegeben. Gerade die deutschen Kirchen hatten sich gegen eine von südafrikanischen Kirchen initiierte Resolution gewehrt, die den Apartheid-Begriff auf die Situation der Palästinenser beziehen wollte. Vermutlich waren es auch die eindringlichen Einsprüche der gastgebenden Kirche in Deutschland, die zu einer Vertagung der Entscheidung geführt haben. Die Vollversammlung erteilte am Ende einen Prüfauftrag im Blick auf die Stichhaltigkeit der Apartheid-Vorwürfe an Israel, die Amnesty international und andere Menschenrechtsorganisationen erhoben hatten.

 

Dann kam der 7. Oktober 2023. Die öffentliche Diskussion konzentrierte sich zunehmend auf die extrem brutalen Morde der Hamas und die harte, ja zunehmend als brutal und unverhältnismäßig empfundene Reaktion der Netanjahu-Regierung. Die Diskussion wurde immer emotionaler, auch deswegen, weil der mit dem militärischen Geschehen verbundene Informationskrieg und der Ausschluss von ausländischen Journalisten aus dem Gazastreifen die differenzierte Wahrnehmung der Situation immer mehr erschwerte.

Auch der Weltkirchenrat hat sich immer wieder geäußert. Ich will einige der Äußerungen des mehrmals im Jahr tagenden Exekutivausschusses, dem ich ebenso wie dem nur alle zwei Jahre tagenden Zentralausschuss vorsitze, hier wiedergeben. Um die Erklärung des Zentralausschusses von Johannesburg in den Kontext zu stellen, ist das unabdingbar

In der ersten Sitzung des Exekutivausschusses, 6 Wochen nach dem Hamas-Anschlag, erklärten wir bei unserer Sitzung in Abuja/Nigeria Folgendes:

“Der Ökumenische Rat der Kirchen ist wie die internationale Gemeinschaft schockiert und empört über die brutalen Terrorangriffe militanter Mitglieder der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Wir verurteilen die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die Ermordung so vieler unschuldiger Kinder, Frauen und Männer sowie die Geiselnahmen und den Missbrauch von Zivilistinnen und Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation im Gazastreifen, der von der israelischen Armee angegriffen wird, sind der ÖRK und die Kirchen in der Region entsetzt über Israels unverhältnismäßige Vergeltungsaktionen, die wir verurteilen…”

Der Exekutivausschuss “fordert die sofortige und bedingungslose Freilassung und sichere Rückkehr aller Geiseln.” Er “betont vor dem Hintergrund der aktuellen Gewalt seine tiefe Sorge über die ausufernden hasserfüllten Taten und die Manifestationen von Antisemitismus und Hass der arabischen und muslimischen Bevölkerung in der Region und weltweit. Im Lichte der Angriffe auf Jüdinnen und Juden überall auf der Welt, die in ungerechtfertigter Weise für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden, wiederholen wir die vor einem Jahr vom Exekutivausschuss ausgesprochene Anerkennung, dass „die Angst der jüdischen Menschen in der Welt legitim ist, dass der Weg von antisemitischen Einstellungen und Hetze zu Völkermord ein sehr kurzer ist.“ Dies gilt auch für die Bekräftigung „der kategorischen Verurteilung von Antisemitismus als Sünde wider Gott und die Menschheit durch die ÖRK-Gründungsvollversammlung in Amsterdam.“

 

Da in der Diskussion um den Johannesburger Beschluss bei Manchen der Eindruck entstanden ist, der ÖRK verurteile die Hamas-Morde nicht angemessen, sei auch noch die Erklärung des ÖRK-Exekutivausschusses von Bogota vom Juni 2024 zitiert:

„Die Missachtung des Völkerrechts spiegelt sich auch in der Art der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023 wider, die auf Berichten über "extremste und unmenschliche Formen des Tötens, der Folter und anderer Gräueltaten, einschließlich sexueller Gewalt" sowie auf Fällen sexueller Gewalt durch israelische Behörden gegen palästinensische Gefangene im Westjordanland beruhen. Vor dem Hintergrund dieser anhaltenden und unkontrollierten Gewalt und Ungerechtigkeit bekräftigen wir die Besorgnis, die wir auf unserer Tagung im November 2023 über die Zunahme von Hassakten gegen Juden, Araber und Muslime in der ganzen Welt zum Ausdruck gebracht haben. Wir verurteilen alle Angriffe auf Juden, die fälschlicherweise für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden.“

 

Zugleich macht die Erklärung mit eindringlichen Worten das Unrecht deutlich, das an den Palästinensern geschieht:

„Trotz internationaler Aufrufe zu einem sofortigen Waffenstillstand (u. a. vom ÖRK und vielen Kirchen in aller Welt), vorläufiger Anordnungen des IGH und der Resolution 2728 (2024)[2] des UN-Sicherheitsrats hat Israel - im Namen der Niederschlagung der Hamas nach den Angriffen vom 7. Oktober 2023 - weiterhin militärische Angriffe durchgeführt, die entsetzliches Leid für die palästinensische Bevölkerung und die Gemeinden im gesamten Gazastreifen verursachen, zuletzt in Rafah, wohin so viele vertriebene Palästinenser und humanitäre Helfer in Sicherheit gebracht worden waren. Unter diesen Umständen müssen ein Waffenembargo und Wirtschaftssanktionen als Mittel in Betracht gezogen werden, um das Blutvergießen und die Zerstörung des Gazastreifens zu beenden.“

 

2. Der Beschluss von Johannesburg

 

Dass diese Verurteilungen in der Erklärung von Johannesburg nicht noch einmal ausdrücklich wiederholt wurden, war ein Fehler, nicht zuletzt deswegen, weil es Anlass zu Missverständnissen gab. Da die Erklärung als Antwort auf den in Karlsruhe gegebenen Prüfauftrag formuliert war, ging sie nicht umfassend auf die Situation ein, sondern befasste sich mit den in Karlsruhe diskutierten Begriffen und ihrem Kontext. Grundlage dafür war ein Papier, das in einer mehrtägigen Klausur Im September 2024 in einem Kloster am Rande Athens von einer weltweit besetzten Arbeitsgruppe verabschiedet wurde. Es hatte sich – wie in Karlsruhe in Auftrag gegeben – mit den Vorwürfen von amnesty international und anderen Menschenrechtsorganisationen gegen Israel und ihren völkerrechtlichen Grundlagen befasst.

 

Die Erklärung stellt die Diagnose einer von Israel den Palästinensern auferlegten „Realität der Apartheid“ in den Kontext völkerrechtlicher Grundlagen und die seit der Karlsruher Vollversammlung noch einmal deutlich zugespitzte Lage der Palästinenser in Gaza und in der Westbank. Sie spricht von möglichen Völkermordvorwürfen gegen die israelische Regierung und der notwendigen Prüfung durch die dafür zuständigen internationalen Rechtsinstitutionen. Auch von gezielten Sanktionen ist die Rede, nicht aber – und das ist ausdrücklich zu vermerken - von der Unterstützung der BDS-Bewegung. Jeder Antisemitismus wird erneut verurteilt. Und es wird ausdrücklich das Engagement im interreligiösen Dialog bekräftigt:

Wir erkennen einen klaren Unterschied zwischen dem jüdischen Volk, unseren Glaubensbrüdern und -schwestern und den Handlungen der israelischen Regierung und bekräftigen, dass der ÖRK entschieden gegen jede Form von Rassismus, einschließlich Antisemitismus, antiarabischem Rassismus und Islamfeindlichkeit, steht. Allerdings zwingen das unerträgliche Leid, das den Menschen in Gaza zugefügt wird, und die eskalierende Gewalt und Unterdrückung im Westjordanland und in Jerusalem die weltweite Gemeinschaft der Kirchen, sich klar, eindringlich und entschlossen für die Grundsätze der Gerechtigkeit nach internationalem Recht und internationaler Ethik auszusprechen.

 

Der Zentralausschuss fordert, dass

1. die Realität der Apartheid beim Namen genannt wird: Wir anerkennen und verurteilen das System der Apartheid, das Israel dem palästinensischen Volk auferlegt und damit das Völkerrecht und das moralische Gewissen verletzt;

2. Sanktionen und die Rechenschaftspflicht umgesetzt werden: Wir fordern Staaten, Kirchen und internationale Institutionen auf, Konsequenzen für Verstöße gegen das Völkerrecht zu ziehen, einschließlich gezielter Sanktionen, Desinvestitionen und Waffenembargos. Der Internationale Strafgerichtshof und die UN-Mechanismen, die mögliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen, müssen umfassend unterstützt werden;

3. die Rechte und die Freiheit der Palästinenserinnen und Palästinenser bekräftigt werden: Wir verteidigen die unveräußerlichen Menschenrechte der Palästinenserinnen und Palästinenser auf Freiheit, Gerechtigkeit, Rückkehr und Selbstbestimmung. Wir fordern das Ende der Besetzung und die Aufhebung der rechtswidrigen Blockade des Gazastreifens; und dass

4. die Widerstandsfähigkeit und das Zeugnis der palästinensischen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, die ihr Recht aufrechterhalten, auf ihrem Land zu bleiben und ihren Glauben frei zu praktizieren, unterstützt werden.

 

Das Papier wurde während der Sitzungstage in den verschiedenen Ausschüssen diskutiert. Die Rückmeldungen aus den Ausschüssen wurden dann vom Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten, der für die Formulierung der Statements verantwortlich ist, aufgenommen und dem Plenum vorgelegt. Schon im Programmausschuss wurden unterschiedliche Meinungen sichtbar. Etwa die Schweitzer Kirchen, aber auch die EKD formulierten einen Dissens im Blick auf den Begriff „Apartheid“, der dann später auch im Plenum noch einmal laut wurde.

Mit dem Dissens in diesem bestimmten Punkt protokolliert, wurde das Papier dann als Ganzes im Konsens angenommen. Das im Weltkirchenrat praktizierte Konsensprinzip sieht nämlich die Möglichkeit vor, dem Konsens insgesamt nicht mit einer blauen Karte (kalt, Widerspruch) im Wege zu stehen, sondern bei Übereinstimmung mit dem Grundanliegen dennoch die orange Karte (warm, Zustimmung) zu zeigen. Als Leiter der Versammlung habe ich bei der entsprechenden Frage nur noch orange Karten gesehen.

 

Es ist klar: Das ganze Papier hat eine große Wucht. Daher wusste ich, dass das Papier in Deutschland auf großen Widerspruch stoßen würde. Meinen Dissens im Blick auf den Apartheid-Begriff habe ich wie einige andere auch in Johannesburg zum Ausdruck gebracht. Trotz gewichtiger von Völkerrechtlern vorgetragener Argumente halte ich den Begriff selbst nicht für hilfreich, weil es ein Trigger-Begriff ist, der starke Emotionen weckt und ein sachliches Gespräch eher erschwert.

 

Ähnliches gilt für dem Begriff des Genozids. Emotional ist es angesichts der immer deutlicher als Kriegsverbrechen erkennbaren Aktionen der israelischen Armee gut nachvollziehbar, diesen Begriff zu gebrauchen. Die rechtlichen Hürden sind aber hoch. Aus meiner Sicht ist es sinnvoll abzuwarten, bis eine klare Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs vorliegt. Dass der israelischer Genozid-Forscher Omer Bartev – eine Autorität auf seinem Gebiet – nun sagt: „Man muss es einen Genozid nennen“ hat allerdings schon jetzt ein hohes Gewicht.

 

Die in Athen diskutierte rechtliche Grundlage für die Verwendung des Apartheid-Begriffs ist ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs, eine sogenannte „Advisory Opinion“ vom 19. Juli 2024:

„Der Gerichtshof stellt fest, dass die Gesetzgebung und Maßnahmen Israels eine nahezu vollständige Trennung zwischen den Siedler- und palästinensischen Gemeinschaften im Westjordanland und in Ostjerusalem vorschreiben und aufrechterhalten. Aus diesem Grund ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Gesetzgebung und Maßnahmen Israels einen Verstoß gegen Artikel 3 des CERD darstellen.“ [Artikel 3 des CERD (Convention on Elimination of All Forms of Racial Discrimination): „Die Vertragsstaaten verurteilen insbesondere Rassentrennung und Apartheid und verpflichten sich, alle Praktiken dieser Art in den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern, zu verbieten und zu beseitigen.“]

Dieses Rechtsgutachten hat Gewicht, aber es hat für die Staaten noch keine verbindliche Qualität.

 

Warum habe ich das Papier insgesamt aber am Ende mitgetragen und hätte – wäre ich als Versammlungsleiter nicht vom Kartenzeigen ausgeschlossen – die orangene Karte gezeigt? Nicht leichten Herzens, sondern mit der inneren Zerrissenheit eines Menschen, der das „Nie wieder“ aus der lebenslangen Beschäftigung mit dem Holocaust und den daraus zu ziehenden Lehren verinnerlicht hat und eine große innere Nähe Jüdinnen und Juden in Deutschland empfindet. Ich habe es nicht nur in der Überzeugung mitgetragen, dass es auch in Deutschland möglich sein muss, sachlich über die Apartheid-Zuschreibung zu diskutieren. Sondern auch deswegen, weil ich all die Geschichten von der täglichen Schikane im Herzen habe, denen Palästinenser in den besetzten Gebieten ausgesetzt sind und die in den letzten Jahren noch dramatisch zugenommen hat. Aus unseren Mitgliedskirchen in Palästina erreichen uns die Berichte von immer schlimmeren Übergriffen radikaler Siedler, die sich unter den Augen der israelischen Sicherheitsbehörden in palästinensischen Dörfern einfach das Land nehmen, das sie für ihren Siedlungsbau brauchen. Minister der gegenwärtigen Regierung billigen das ausdrücklich. Und der neue amerikanische Botschafter plädiert offen für die Annexion der besetzten Gebiete. Die Knesset hat sie bereits angekündigt.

Dazu kommt Gaza: die Welt schaut zu, wie man Kindern die Nahrungsmittel vorenthält, die für ihr Leben lang durch diese lange Zeit der Unterernährung geschädigt sein werden. Ein Arzt aus dem Gazastreifen hat mir schon letztes Jahr bei einer Videokonferenz gesagt: Ich habe heute 310 Kinder gesehen, 105 davon waren mangelernährt. Keines dieser hungernden Kinder hat sich eines Verbrechens schuldig gemacht.

 

Inzwischen hat die UNO für bestimmte Gebiete des Gazastreifens das Vorliegen einer Hungersnot erklärt und die israelische Regierung dafür verantwortlich gemacht.

Wenn das alles an einer Regierung abprallt, die von rechtsradikalen Ministern abhängig ist, dann bleibt nur noch das Mittel Sanktionen. Vor drei Jahren habe ich in Karlsruhe noch dagegen angeredet. Inzwischen halte ich sie für möglicherweise angemessen, auf keinen Fall als Totalboykott, aber gezielt, wo sie wirklich die Wurzel des Unrechts treffen. Welches Mittel bleibt denn sonst noch? Das ist inzwischen auch meine Frage.

Es muss möglich sein, auch in Deutschland, dieses himmelschreiende Unrecht genauso deutlich anzusprechen, wie es notwendig ist, die Kriegsverbrechen der Hamas beim Namen zu nennen und auf die Hölle hinzuweisen, durch die die noch immer festgehaltenen Geiseln gehen.

Der Grund dafür ist die Untrennbarkeit des „Nie wieder“ als Lehre aus der Geschichte und seinem universalen Horizont.

 

3. Kontextualität und Interkontextualität

 

3.1. Deutschland: Theologie nach dem Holocaust

 

„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ – dieses berühmte Zitat Dietrich Bonhoeffers habe ich letzten Freitag im Stockholmer Konzerthaus in einer Rede anlässlich des Jubiläums der Stockholmer „Life and Work“-Konferenz verwendet, die vor genau 100 Jahren einen entscheidenden Impuls zur späteren Gründung des Weltkirchenrats gegeben hat. Ich habe mit dem Zitat deutlich zu machen versucht, dass es unmöglich ist, authentisch zu glauben, ohne sich für die Welt zu engagieren und insbesondere für die besonders Verletzlichen einzusetzen. Ich empfinde es immer wieder als Glück, wenn ich wahrnehme, dass nach dem nach wie vor für mich von Deutschland ausgegangenen unfassbaren Geschehen der Shoa Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Heimat gefunden haben und unser Land bereichern.

Ganz am Anfang meiner Bischofszeit haben wir die bleibende Erwählung des biblischen Gottesvolkes Israel in unsere bayerische Kirchenverfassung aufgenommen. Ich habe damals in meinem Bischofsbericht von meinem Antrittsbesuch im jüdischen Gemeindezentrum in München berichtet. Es entwickelte sich ein sehr vertrauensvolles und intensives Gespräch mit Präsidentin Charlotte Knobloch. In diesem Gespräch spielte auch das Erschrecken über die anti-judaistischen Tiraden Martin Luthers am Ende seines Lebens eine Rolle. Ich habe darauf hingewiesen, dass es in dieser Hinsicht nichts zu beschönigen gebe und dass die einzige Konsequenz für uns als Kirche sein kann, alles zu tun, damit solche Ideen in der Zukunft nie wieder vertreten werden.

In dem Moment hörten wir Kindergesang, der immer lauter wurde. Und eine Mitarbeiterin kündigte überraschenden Besuch an. Wenige Minuten später war das Büro der Präsidentin voll mit singenden Kindern. Es waren die Kinder des im Gemeindezentrum angesiedelten jüdischen Kindergartens, die in Verkleidung und mit den dem Brauch entsprechenden Rasseln das Purim-Fest feierten. Weder Präsidentin Knobloch noch ich konnten uns der ansteckenden Freude der Kinder und – so will ich noch weitergehend sagen – dem Glück des Momentes entziehen. Mitten in München, dem Ort, an dem die verbrecherische Bewegung der Nationalsozialisten ihren Ursprung nahm, füllte nun der Gesang jüdischer Kinder, Münchner Kinder, die Luft. Ich werde diesen Moment nie vergessen. Und ich habe damals ganz persönlich versprochen, dass ich alles, was in meiner Macht steht, dazu tun werde, dass jüdisches Leben in Deutschland nie wieder in Gefahr gerät. Dieses Versprechen unterstreiche ich 13 Jahre später von ganzem Herzen.

Es geht nach wie vor darum, dass wir die unselige Tradition des Anti-Judaismus, die den Anti-Semitismus in der Geschichte immer wieder befördert hat und dadurch soviel Leid angerichtet hat, in der Kirche endgültig überwinden. Nie wieder – das habe ich damals gesagt und das sage ich heute - soll in den Gemeinden, an den Universitäten oder in den Schulen irgendjemand über Juden als Gottesmörder herziehen, ohne überhaupt zu merken, dass Jesus selbst ein Jude war. Deswegen ist es so wichtig, die untrennbare Verbindung zwischen Christentum und Judentum immer wieder einzuschärfen und deswegen ist es wichtig, dass entsprechende Passagen in so vielen Landeskirchen in die jeweiligen Kirchenverfassungen aufgenommen worden sind.

 

Als EKD-Ratsvorsitzender habe ich dann im Reformationsjubiläumsjahr 2017 anlässlich der Woche der Brüderlichkeit in der Frankfurter Paulskirche vor zahlreichen Vertretern des Judentums an die Hetzreden Martin Luthers erinnert und zum Ausdruck gebracht, dass sie uns heute mit großer Trauer und Scham erfüllen. Ich habe es als große Ehre und berührendes Zeichen des Vertrauens empfunden, dass Josef Schuster mich später bei meinem Besuch in die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz begleitet hat.

Das alles hat mich immer wieder eine große innere Zerrissenheit spüren lassen, als wir im Weltkirchenrat die Diskussion um den Johannesburger Beschluss geführt haben.

Zugleich habe ich genau zugehört, wenn Menschen aus anderen Teilen der Welt mir ihre kontextuellen Erfahrungen nahegebracht haben.

 

3.2. Südafrika: Boykott als Tür zur Befreiung

 

Am deutlichsten ist das immer wieder am Kontext Südafrikas geworden. Seit 2009 habe ich eine Außerordentliche Professur an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch. Mit vielen Theolog/innen und Kirchenvertreter/innen, allen voran der anglikanische Erzbischof von Kapstadt Thabo Makgoba, verbindet mich eine enge Freundschaft. Immer wieder habe ich von der Betroffenheit gehört, die sie empfunden haben, als sie die Situation in den besetzten Gebieten in Palästina mit eigenen Augen kennengelernt haben. Die einhellige Reaktion war: Diese Situation hat die Qualität unserer Apartheid-Erfahrung. Manche sagen: sie ist noch schlimmer.

 

Die Welt hat sich damals einer Regierung in Südafrika gegenüber gesehen, die sich gegenüber allen Aufrufen zur Beendigung des rassistischen Apartheid-Systems taub gestellt hat. Irgendwann war klar: Nur noch Boykottmaßnahmen können zu einer tatsächlichen Veränderung führen. Der Weltkirchenrat hat sich damals für solche Maßnahmen eingesetzt. Das Apartheid-Regime fiel. Und als Nelson Mandela am 9. Juni 1990 das ökumenische Zentrum, die Zentrale des Weltkirchenrats in Genf besuchte, sagte er: “Die Unterstützung des Weltkirchenrats stellte in der konkretest möglichen Weise den Beitrag dar, den Religion zu unserer Befreiung geleistet hat.“ Und am 13.12. 1998 beendete er seine Ansprache zum 50. Geburtstag des ÖRK in Harare mit den Worten: „Ich habe alles andere hintangestellt, so dass ich die Gelegenheit wahrnehmen konnte, hierher zu kommen und für alles danke zu sagen, was ihr für jeden von uns getan habt. Danke und nochmal danke!“

 

Aus meiner Sicht gibt es Analogien der südafrikanischen Erfahrung zu anderen Apartheid-Erfahrungen, aber auch Unterschiede. Ein von Völkermord traumatisiertes Volk, das nach aller Verfolgung endlich einen Ort findet, wo es sicher leben kann, lässt sich nicht gleichsetzen mit den weißen Kolonialisten, die das System der Apartheid in Südafrika errichtet haben. Obwohl man sich bei dem Apartheid-Begriff in dem Beschluss des Weltkirchenrats gar nicht auf das südafrikanische Apartheid-Regime bezieht, sondern auf das Völkerrechts, wirkt der Begriff als Triggerbegriff, der alle möglichen Assoziationen und die damit verbundenen Emotionen weckt. Daher kommt meine Zurückhaltung gegenüber diesem Begriff.

 

3.3. Universalismus aus der Wurzel der Erinnerungskultur nach dem Holocaust

 

Die Debatte um den Beschluss des Weltkirchenrats zur Apartheid gegenüber den Palästinensern berührt mich auch deswegen sehr persönlich, weil zwei Grundorientierungen, die mein Leben geprägt haben, hier in Spannung zueinander zu geraten scheinen. Doch sie dürfen nicht gegeneinanderstehen. Die eine Grundorientierung ist das „Nie wieder“, das aus der lebenslangen Beschäftigung mit dem Holocaust und den daraus zu ziehenden Lehren erwächst. Viele enge persönliche Beziehungen mit Jüdinnen und Juden in Deutschland und darüber hinaus sind für mich aus dem jüdisch-christlichen Gespräch entstanden. Das Gefühl, wenigstens einen Staat auf der Welt zu haben, in dem sie bei Verfolgung sichere Zuflucht finden können, ist durch die brutalen Morde und Geiselnahmen der Hamas am 7. Oktober für sie verloren gegangen. Darin liegt eine Retraumatisierung, ohne die vieles, was seitdem passiert ist, nicht zu verstehen ist. Und daraus erwächst für uns alle eine Verantwortung, alle antisemitischen Vernichtungsfantasien entschieden zu bekämpfen, egal aus welcher Ecke sie kommen.

 

Die andere Grundorientierung hängt eng mit den Lehren aus dem Holocaust zusammen. Es ist die Bindung an universalistische Werte, in deren Zentrum die Menschenwürde steht. Die Verpflichtung, nie wieder wegzuschauen, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, kommt ja aus dem Erschrecken über das Schweigen so vieler, auch in den Kirchen, gegenüber der sichtbaren Verfolgung der Juden. Diese Verpflichtung gilt – natürlich! - im Blick auf alle Menschen.

Eine klare Konsequenz daraus ist die Hochschätzung des Völkerrechts. Die Stärke des Rechts ist die einzige wirkliche Orientierungsgröße, auf die wir uns in einer Welt noch verbindlich beziehen können, in der immer mehr das Recht des Stärkeren zu gelten scheint. Wie ernst wir es mit der Anerkennung des Völkerrechts meinen, bewährt sich gerade dann, wenn sie uns schwerfällt. Der sicherste Weg, dieses kostbare Gut zu sabotieren, ist die selektive Anerkennung. Aber Leid ist nicht teilbar. Das ist jedenfalls die Einsicht der jüdisch-christlichen Tradition, dass jeder Mensch geschaffen ist zum Bilde Gottes.

Diese universalistische Haltung ist es, aus der heraus der Weltkirchenrat die Kriegsverbrechen der Hamas, aber auch immer wieder die anhaltenden Bombardierungen und die Blockade humanitärer Hilfe in Gaza verurteilt, die längst jedes Maß verloren haben und ganz offensichtlich das internationale Recht mit Füßen treten.

 

Als Mitgliedskirchen des ÖRK setzen wir uns alle für die Überwindung von Gewalt ein. Unsere kontextuellen Erfahrungen und Analysen des Konflikts und seiner historischen Wurzeln mögen unterschiedlich sein. Was nicht kontextabhängig sein kann, sondern absolut kontextübergreifend ist, ist unser Engagement für das Leben, unser Engagement für den Frieden und unser Engagement für Versöhnung. Es ist kontextunabhängig, weil sie unsere Verpflichtung gegenüber Gott und unsere Verpflichtung gegenüber Jesus widerspiegelt, in dem Gott als Mensch sichtbar wurde. Jesus starb mit einem Schrei der Verzweiflung am Kreuz. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diese Worte sind hebräisch, Worte aus Psalm 22. In diesen Tagen hören wir sie von Frauen und Männern sowohl in Gaza als auch in Israel.

 

4. Den Schmerz der anderen verstehen

 

Der entscheidende Faktor für die Überwindung der Gewalt ist das Niederreißen der Empathie-Abschottungsmauern. Die Empathie auch gut meinender Menschen endet viel zu oft da, wo die eigene Bezugsgruppe verlassen wird. Zugang zum Leid der anderen zu finden, ist aus meiner Sicht aber der Schlüssel für die Öffnung von neuen Wegen, die am Ende zu einem gerechten Frieden führen können. Viel zu oft habe ich in den Debatten eine solche Empathie-Abschottungsmauer gespürt. Eine Mauer, die es unmöglich macht, das Leid der anderen zu sehen und sich nahegehen zu lassen. So verständlich es ist, seine ganze Empathie-Energie auf die eigene Bezugsgruppe zu konzentrieren, so wenig kann damit die Gewalt überwunden werden, von der das schreckliche Leid zuallererst ausgeht. Immer wieder habe ich mit einiger Fassungslosigkeit wahrgenommen, wie Menschen, die guten Willens sind und gegen Unrecht aufbegehren, das Leid der anderen völlig ausblenden.

Menschen protestieren mit guten Gründen gegen das Unrecht, das den Palästinensern in der Vergangenheit angetan worden ist und ihnen heute durch Siedlergewalt und völlig unverhältnismäßige israelische Bombardements angetan wird. Die Empörung, die sie empfinden und der sie in Demonstrationen Ausdruck verleihen, ist in der Regel Ausdruck echter Empathie. Deswegen darf man sie nicht abqualifizieren oder gar pauschal rechtlich ächten.

Aber wie kann es sein, dass bei manchen von ihnen keinerlei Betroffenheit gegenüber brutalen Morden und Geiselhaft der Hamas an so vielen unschuldigen Menschen zu spüren ist und sie im schlimmsten Fall sogar Freudentänze darüber aufführen? Wie kommt es, dass Feministinnen die schreckliche sexualisierte Gewalt von Hamas-Kämpfern gegenüber israelischen Frauen als Nebenfolge eines Befreiungskampfes abhaken oder sie gar ganz leugnen?

 

Umgekehrt stehen Menschen angesichts von weltweitem Antisemitismus und kontinuierlicher Vernichtungsdrohungen nach den retraumatisierenden Hamas-Morden mit guten Gründen an der Seite Israels. In Deutschland tun sie das nicht zuletzt deswegen, weil sie sich das unfassbare Leiden der Juden im Dritten Reich wirklich haben nahegehen lassen. Es ist diese Leidsensibilität, die zu dem „Nie wieder“ geführt hat, heute oft ergänzt als „Nie wieder ist jetzt!“

 

Aber wie kann es sein, dass es unter ihnen lange Zeit so wenig sichtbares Entsetzen angesichts des unfassbaren Leids gab und manchmal noch gibt, das den Menschen in Gaza durch monatelange Bombardements mit vermutlich 60 000 Toten oder mehr, viele davon Frauen und Kinder, angetan wurde und wird?! Wie kann es sein, dass wir keine wirksamen Mittel finden, um eine menschengemachte Hungerkatastrophe im Gazastreifen zu verhindern? In jedem anderen Fall eines uns nahestehenden Landes hätten wir ja alle lautstark protestiert! Ist Leidsensibilität teilbar?

Nein, natürlich nicht! Was wir brauchen, ist radikale Leidsensibilität – und die kann sich nie danach richten, wer betroffen ist. Die gilt, wie die Menschenwürde selbst, für jeden Menschen.

 

Ein Beispiel dafür, wo solche radikale Leidsensibilität eindrucksvoll sichtbar wurde, will ich erzählen. Ich habe es auch in meinem Bericht vor dem ÖRK-Exekutivausschuss in Abuja/Nigeria im November 2023 geteilt:

Im Internet werden viele Videos verbreitet, die das ungeheure Leid zum Ausdruck bringen, dessen Zeuge wir sind. In den meisten Fällen zielen diese Videos darauf ab, den Schmerzensschrei der eigenen Seite zu unterstützen. Und das ist legitim, ja sogar notwendig, um den Zahlen der Leidenden ein menschliches Gesicht zu geben. Da dieses sehr emotionale Instrument jedoch so oft missbraucht wird, um Unterstützung für die eigene Sache zu finden, muss man vorsichtig sein, was die Vertrauenswürdigkeit einiger dieser Videos angeht.

Ein Video hat mich jedoch besonders berührt, weil es die Grenzen überschreitet und die Universalität des Leidens anerkennt und den Ruf nach einem gerechten Frieden laut werden lässt. Es stammt von einer 19-jährigen Israelin, die den brutalen Hamas-Angriff im Kibbuz Be'eri überlebt hat. Am 11. Oktober, vier Tage nach ihrem traumatischen Erlebnis, spricht sie in eine Kamera und sagt:

"Die Welt schuldet mir die Zeit zuzuhören. Wie soll ich morgens aufstehen, Bürger Israels, Politiker, Einwohner Israels und im Ausland? Es ist mir egal, wer mir zuhört. Hören Sie mir gut zu. Wie soll ich morgens aufstehen, wenn ich weiß, dass es 4,5 km vom Kibbutz Be'eri entfernt, in Gaza, Menschen gibt, für die dieses Ereignis noch nicht zu Ende ist? Für mich war es nach 12 Stunden vorbei, weil es einen Ort gab, an den ich evakuiert werden konnte. Ich bin am Toten Meer. Diejenigen, die von Rache sprechen, sollten sich schämen. Es gibt eine Menge Schmerz. Das ist wahr. Ich selbst verliere nach allem, was ich durchgemacht habe, jedes Mal so viel Energie, wenn ich das Wort Rache höre. Dass Menschen das durchmachen, was ich durchgemacht habe, und niemanden haben, der sie herausholt. Das kann nicht sein. Das kann nicht sein." Und dann fährt sie fort: "Bieten Sie keine Soldaten zu meinem Schutz an. Sprechen Sie mit mir über eine politische Lösung. Seit Jahren bitten wir um eine politische Lösung..." Es ist mir egal, wer die Raketen abschießt - sagt sie - was ich weiß, ist, dass Be'eri leidet und Gaza leidet. "Glauben Sie mir, jede Rakete, die abgefeuert wird, und zwischen Gaza und Be'eri liegen nur 4,5 km, lässt den Boden an beiden Orten auf genau die gleiche Weise beben. Auf genau dieselbe Weise. Das ist unmöglich. Unmöglich... Ich fordere einen gerechten Frieden. Ich fordere, dass die Beduinen im Negev die gleiche Unterstützung erhalten wie der Kibbuz Be'eri..." Am Ende bittet die junge Frau verzweifelt um die Rückkehr der Geiseln, um Frieden, um Fairness und Anstand.

Es ist schmerzhaft, dieses Video einer jungen, durch Gewalt traumatisierten Frau zu sehen. Gleichzeitig enthält es einen Keim der Hoffnung, weil sie das schreckliche Leid der Menschen in Gaza anerkennt. Und sie plädiert für einen gerechten Frieden, der die legitimen Rechte sowohl der Israelis als auch der Palästinenser respektiert.

 

Ein ähnlich bewegendes Beispiel dafür, wie Empathie der Keim für eine neue Tür zum Frieden im Nahen Osten sein kann, ist der "parents circle" - eine Gruppe von palästinensischen und israelischen Eltern, die ihre Kinder durch israelische Kugeln oder palästinensische Terroranschläge verloren haben. Selbst wenn sie von völlig entgegengesetzten Seiten des Leidens kommen, haben sie sich entschieden, sich nicht der Dynamik von Hass und Gewalt hinzugeben, sondern sie in eine Dynamik der Liebe und Versöhnung zu verwandeln.

 

Ob es die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem ist oder die Rabbis for Human Rights oder die Initiative von über 400 Rabbis weltweit, die ihre Stimme gegen die Blockade humanitärer Hilfe durch Israel wenden, oder auch die Versöhnungsarbeit der palästinensischen Familie Nassar im „tent of nation“ („Wir weigern uns Feinde zu sein“) oder des jüdisch-muslimischen Ehepaars Meron Mendel und Saba-Nur Cheema in Deutschland: es gilt über Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten und Türen zu öffnen hin zu einem Weg, der zu einem gerechten Frieden – und das ist trotz aller Hindernisse noch immer am ehesten eine Zwei-Staaten-Lösung - führen kann.

 

5. Deutsche Solidarität mit Israel – richtig verstanden

 

Unsere deutsche Diskussion ist extrem selbstzentriert. Das Verständnis der Stimmen aus dem Rest der Welt ist viel zu sehr unterentwickelt. Aus meiner Sicht ist es wichtig, wenn wir unsererseits im globalen Kontext immer wieder auf das unfassbare Leid hinweisen, das die millionenfache industrielle Vernichtung von Jüdinnen und Juden bedeutet hat und das sich für immer in die Seele von Jüdinnen und Juden in aller Welt eingeschrieben hat. Es ist nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Es ist relevant für die ganze Welt, in der bis heute Antisemitismus eine verbreitete Haltung ist, die es zu bekämpfen gilt. Dass Deutschland sich als Land in seiner Geschichte nach dem 2. Weltkrieg Israel und seiner Sicherheit besonders verpflichtet gefühlt hat, hat daher gute Gründe. Es ist richtig, dass wir in Deutschland ohne Einschränkung für das Existenzrecht Israels eintreten und dafür werben, dass es weltweit anerkannt wird.

 

Dieses Engagement ist allerdings nur dann glaubwürdig, wenn es begleitet ist von einem Engagement für die weltweite Geltung von Menschenrechten und für eine Achtung des internationalen Rechts ohne Doppelstandards. Jedes Leben, diese weithin geteilte grundsätzliche Einsicht gilt es ernst zu nehmen, ist gleich viel wert.

Richtig verstandene Solidarität mit Israel heißt daher, sich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten einzusetzen, der allein dazu führen kann, dass die Menschen in Israel genauso wie in Palästina in nachhaltiger Sicherheit leben können. Diejenigen Kräfte auf beiden Seiten müssen gestärkt werden, die bereit sind, sich auf einen solchen Weg einzulassen. Nur sie verdienen unsere Solidarität, die aber umso entschiedener.

 

Wir brauchen in Deutschland eine strategisch-kooperative Vernetzung von christlich-jüdischem und palästinensischem Gespräch miteinander, um aus den plakativen und gegenseitig exklusiv ausschließenden Zurechnungsmechanismen herauszukommen. Beide Gesprächszusammenhänge verdanken sich dem Willen, aus schrecklichem Leid heraus zu einer Kultur des Respekts vor dem Leben zu kommen und kompromisslos für die Würde jedes Menschen einzutreten. Dieses notwendige gemeinsame Engagement verträgt keine Blasenbildung zwischen den Palästina-Unterstützern und den Israel-Freunden.

 

6. Der Auftrag des Weltkirchenrats

 

Als Weltkirchenrat wollen wir Brücken bauen. Wir wollen das Leid auf beiden Seiten sichtbar machen, die jeweils unterschiedliche Form des Gefühls der Bedrohung wahrnehmen und verständlich machen sowie die Ursachen dafür überwinden helfen. Damit das gelingt, treten wir für das internationale Recht und die Organe wie den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ein, die damit beauftragt sind, auf der Basis der entsprechenden Gesetze Recht zu sprechen.

Radikale Leidsensibilität sowie das Eintreten für die Menschenrechte und das sie schützende internationale Recht ist die konkrete Konsequenz aus dem, was über der ÖRK-Vollversammlung von Karlsruhe stand: „Die Liebe Christi, bewegt, versöhnt und eint die Welt“.

 

Ich hoffe sehr, dass nach den ersten starken Emotionen als Reaktion auf den Johannesburger Beschluss auch hier in Deutschland ein Gespräch im Gang kommt, das der Tatsache Rechnung trägt, dass Sicherheit für Israel nur nachhaltig möglich wird, wenn die Fixierung auf Militär und Gewalt überwunden wird und auf beiden Seiten der Keim für neues Vertrauen wächst.

Es ist mir sehr klar, wie schwer das ist und wie lange es dauern wird. Aber es gibt keine Alternative dazu.

August 2025

 

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